Es steht zu befürchten, dass das öffentliche Gesundheitssystem ausgehungert wird und die Patienten draufzahlen: durch Selbstbehalte, schlechtere Leistungen und längere Wartezeiten.
Die AK Tirol hat Klage gegen die Kassenzerschlagung beim Verfassungsgerichtshof eingebracht. Mehr als 200 Seiten umfasst der Individualantrag, in dem alle politisch relevanten Punkte gegen die Zerschlagung und Zentralisierung genau ausgeführt sind, gegen die die Arbeiterkammer Beschwerde erhebt. „Allein die Tiroler Gebietskrankenkasse verliert durch die Zentralisierung geschätzte 178 Millionen Euro. Die Hauptbetroffenen sind die Patienten. Die funktionierende Gesundheitsversorgung der Arbeitnehmer-Familien steht auf dem Spiel“, sagt der Tiroler AK Präsident und BAK-Vizepräsident Erwin Zangerl (AAB-FCG).
Der Individualantrag der Tiroler Arbeiterkammer richtet sich gegen sämtliche Regelungen, in denen die Rechte der Dienstnehmer und Dienstnehmerinnen in den zukünftigen Gremien der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) (bzw. zum Teil auch der PVA) beschnitten werden sollen, und führt im Wesentlichen folgende Punkte aus:
Zunächst wird mit dem Individualantrag die Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen zur Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) an sich und damit im Ergebnis das gesamte Sozialversicherungs-Organisationsgesetz (SV-OG) bekämpft.
Aus Sicht der Tiroler AK ist diese Zusammenlegung unter anderem deshalb verfassungswidrig, weil damit gegen das Regionalitätsprinzip der Selbstverwaltung verstoßen wird. Die Krankenkassen müssen aufgrund der Verfassung als sogenannte „nicht territoriale Selbstverwaltungskörper“ demokratisch legitimiert sein. Diese Legitimation erhalten sie für die Dienstnehmerinnen und Dienstnehmer von der Tiroler Arbeiterkammer, deren Gremien von den Mitgliedern ja regelmäßig direkt gewählt werden.
Auf Bundesebene (also bei einer einheitlichen österreichweiten Gesundheitskasse) ist diese Legitimation aber nicht mehr gegeben, weil die Gremien der Bundes-AK nicht direkt gewählt, sondern von den Länderkammern beschickt werden.
Daraus ergibt sich eine notwendige „regionale Repräsentanz“, die im Sinne des Subsidiaritätsprinzips nur bei „Landeskrankenkassen“ gewährleistet werden kann.
Ein weiterer Antragspunkt richtet sich gegen die paritätische Zusammensetzung des Verwaltungsrates sowie der Landesstellenausschüsse in der ÖGK (und begleitend auch in der PVA) und dem damit verbundenen massiven Verlust an Einfluss der Dienstnehmer- zugunsten der Dienstgeberschaft.
Mit einem weiteren Antragspunkt wird der Entzug der (direkten) Entsenderechte der Tiroler AK in die Verwaltungsgremien der ÖGK bekämpft. Die Tiroler AK hat in Zukunft wohl nur mehr ein bloßes Vorschlagsrecht für die Mitglieder des Landesstellenausschusses, das von der Bundes-AK theoretisch sogar übergangen werden könnte. Damit kommt es zu einem Auseinanderklaffen des in der Tiroler AK versammelten Personenkreises für das Bundesland Tirol und dessen Einfluss auf die Willensbildung des Landesstellenausschusses der ÖGK.
Nach Ansicht zahlreicher Verfassungsexperten handelt es sich bei den Dienstgebern in der Krankenkasse um „bloße Außenstehende“; die bloße Beitragsleistung begründet also noch keine Mitgliedschaft in der Krankenkasse. Da Außenstehende jedoch an der Willensbildung eines Selbstverwaltungskörpers – wenn überhaupt, dann nur in sehr untergeordnetem Ausmaß mit einem schwachen Einfluss auf die Willensbildung beteiligt sein dürfen, ergeben sich erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken aus dem Prinzip der demokratischen Legitimation, dem sozialpartnerschaftlichen Gleichgewicht sowie dem Gleichheitsgebot.
Mit einem eigenen Antragspunkt wird auch die Verkleinerung der Verwaltungsgremien in der ÖGK bekämpft. Durch die Verkleinerung des Verwaltungsrates, der Hauptversammlung und der Landesstellenausschüsse kommt es zu einem Verstoß gegen die Mindestanforderungen an die Grundsätze der demokratischen Repräsentation. Gerade im Hinblick auf die unlängst stattgefundenen Arbeiterkammerwahlen kommt es durch diese Verkleinerung zu einem massiven Verlust an demokratischer Breite. Faktisch kommt es durch diese Verkleinerung nämlich zur nahezu gänzlichen strukturellen Verdrängung von kleineren AK-Fraktionen aus den Leitungsgremien der ÖGK.
Der letzte Antragspunkt wendet sich schließlich gegen das Übergewicht von Dienstgebervertretern über Dienstnehmervertreter in der Konferenz des Dachverbandes („6 zu 4“). Dieses Übergewicht an Dienstgebervertreternwiderspricht dem österreichischen System der Sozialpartnerschaft, das auf einem „Vorrang der gemeinsamen Interessen von Dienstgebern und Dienstnehmern“ beruht. Auch aus Gesichtspunkten des Gleichheitssatzesergeben sich diesbezüglich verfassungsrechtliche Bedenken.
Zangerl: „Es geht um die Zukunft unseres Gesundheitssystems, um eine funktionierende Versorgung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Familien. Wir verlangen statt einer Kassenzentralisierung, die die Leistungen für die Versicherten verschlechtern wird, eine Gesundheitsreform mit einem bestmöglichen Leistungsniveau für alle Beschäftigten und ihre Familien. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die unser Land am Laufen halten, haben sich ein derart respektloses Verhalten nicht verdient.
Es steht zu befürchten, dass das öffentliche Gesundheitssystem ausgehungert wird und die Patienten draufzahlen: durch Selbstbehalte, schlechtere Leistungen und längere Wartezeiten. Die neun Gebietskrankenkassen sind nicht Eigentum des Staates oder gar der Regierung, sondern sind selbstverwaltete Einrichtungen, die den 8,7 Millionen Versicherten gehören, weil sie zum größten Teil aus Arbeitnehmer-Beiträgen gespeist werden. Somit ist diese Zentralisierung die größte Enteignung gegenüber der Arbeitnehmerschaft. Diese Einheitslösung wird keine Rücksicht mehr auf regionale Unterschiede nehmen“, befürchtet der AK Präsident abschließend.